In der aktuellen Zeit wird Deutschland im Jahresrückblick beleuchtet, natürlich, und der Artikel von Seite Eins weiß neben vielen anderen schlauen Dingen auch zu verkünden, dass die Deutschen darum beneidet würden, so gut zu leben. Und dass man sich das vor einem Jahr auch nicht hätte träumen lassen. Dennoch habe Deutschland die kürzesten Arbeitszeiten und die längsten Ferien, und neben stetem Selbstzweifel sei das jetzt wohl eine deutsche Tugend.
Das Dossier in der selben Ausgabe beschäftigt sich mit Zeit, das war dieses Jahr ganz groß, Entschleunigung war irgendwie dran. Im Dossier wird berichtet von ganzen entschleunigten Städten, in denen nur regionale Produkte (und folglich nicht herbeigehetzte, in der Produktkette optimal positioniert und right-on-time) angeboten und verarbeitet werden, nach einem Vorbild aus Italien namens Cittaslow.
Dass das ganz wunderbar ist, beides, muss ich nicht betonen. Lebensqualität als Kulturgut und die politisch unterstützte Langsamkeit sind klasse und vor allem erstaunlich, denn Langsamkeit macht wirtschaftlich keinen Sinn: “Zeitwohlstand ist nur durch Verzicht auf Geld zu bekommen” sagt Karlheinz Geißler, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik. Logisch. Wenn ich nur halbtags arbeite, muss ich ne kleine Wohnung nehmen. Wenn man jeden Tag 40.000 Hamburger verkaufen will, nimmt man billiges Fleisch, um den Gewinn zu vergrößern.
Langsam ist teuer, aber dennoch gerade im Kommen.
Mit der Wahlschwester sprach ich darüber, ob das eine kulturelle Entwicklung sein könnte. Erst kommt Mitbestimmung in Form von Demokratie, dann Menschenrechte, gut, bei uns auch der Kapitalismus, und irgendwann kommt dann die Entschleunigung.
Das macht eine Menge Sinn. Maschinen nehmen uns immer mehr Arbeit ab, Vollzeitstellen sorgen nur dafür, dass die Schere von Arm und Reich (nämlich von arbeitslos und beschäftigt) weiter auf geht. Vollbeschäftigung ist eine Illusion, die ganzen Maßnahmen jetzt können ehrlicherweise nur auf, sagen wir, 5% Arbeitslose zielen. Die behalten wir, und in Zukunft werden es mehr.
Zeit genießen zu lernen, und sie wieder zurückzuerobern, ist also zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte sinnvoller möglich gewesen als jetzt. Interessanterweise sehe ich in den USA, die ja nun eigentlich schon länger eine ähnliche Entwicklung wie hierzulande erleben, überhaupt keine Langsamkeit, oder zumindest nur für sehr wenige. Die Slow-Fooder gibt es auch dort.
Das kann 2 Dinge bedeuten: Entweder eine Gesellschaft braucht immer einige Leute, die unglaublich rappeln. Bundeskanzlerin wird wohl nie eine halbe Stelle werden, und Siemens managet man auch nicht in 40 Stunden die Woche.
Andererseits: Kein Mensch braucht Siemens, außer Siemens selbst. Wir wollen nur telefonieren, da muss kein Moloch von Firma hinterstehen.
Die zweite Möglichkeit wäre, und sie gefällt mir: Es ist einfach noch nicht so weit. Amerika ist größer und komplizierter, vielleicht ging es bei uns einfach schneller. Zumindest erlebe ich immer mehr Menschen, die davon sprechen, langsamer leben zu wollen oder es schon zu tun.
Falls ihr noch keinen Vorsatz fürs neue Jahr habt, hier wäre einer. Ich will das jedenfalls versuchen. Im Jetzt sein. Gegenwart genießen. Auf ne Menge Sachen einfach mal scheißen.