Ich mache momentan eine Weiterbildung in einer ganzheitlichen Massage, die mich beglückt und in vielem unterstützt. Traumhafte Sache. Letztes Wochenende war wieder ein Massage-Workshop-Wochenende (Thema: Beine), und es sind zwei Neue dazugekommen. Einer von beiden, der Mann, ist etwas speziell. Ein bisschen rechthaberisch, ein bisschen trampelig, was schöne ernste Situationen angeht. Es fällt ihm schwer, einen lustigen Spruch nicht unterzubringen, und es fällt ihm schwer, nicht gegen eine Meinung zu argumentieren, die jemand anders präsentiert. Gleichzeitig ist er interessanterweise ganz sicher, dass er Menschen psychotherapeutisch sehr helfen kann, er “weiß” das, so sagt er. Ich halte ihn für ziemlich gefangen in seinen Sichtweisen, aber nun gut. Ich kenne ihn erst kurz, und vorerst will ich an einer Episode mit ihm nur etwas Allgemeines beleuchten.
Während des Wochenendes wurde ich krank. Das ist schon einmal passiert, ganzheitliche Massage berührt eben nicht nur Haut und Muskeln, und es kann passieren, dass Prozesse angestoßen werden, wo dann etwas rauskommt. Ich jedenfalls war krank, nahm mich ein bisschen aus dem Workshop raus, ruhte und überlegte, wie es mir gerade geht, was das Thema “Beine” bei mir so auslöst und so weiter.
Der etwas sperrige neue Teilnehmer setzte sich zu mir, machte es sich gemütlich, schaute mich dann mit einem tiefen Blick an und fragte: “Warum?”.
Die Situation gab her, dass er meine Krankheit meinte, dass er dem Glauben anhängt, dass Krankheiten etwas bestimmtes bedeuten, dass ich die Bedeutung meiner Krankheit wüsste, und dass ich ihm davon erzählen wollen würde.
Ich wurde wütend und fühlte mich in die Enge gedrängt, hatte mich aber damit abgefunden, dass er ein bisschen schwierig für mich war und ich aber noch einige Wochenenden mit ihm zubringen müsste. Ich gab die allgemeine Richtung meiner Vermutungen zur Antwort, sie hatten mit Selbstliebe und dem Umgang mit eigenen Unzulänglichkeiten zu tun, und er fragte: “Fühlst du dich hier wohl?”.
Ich dachte kurz nach, überlegte, ob die Situation die richtige wäre, um ihm zu sagen, dass er mich nervt, entschied mich dagegen und sagte “Joa”.
“Rundum?”, hakte er nach, und ich wurde noch wütender. Innerlich stieg ich aus, und ich kann auch jetzt aussteigen, denn die Geschichte ist ausreichend erzählt, um verständlich zu machen, was mich störte.
Ich finde es unfassbar: Ich sage ihm sogar, was meiner Meinung nach los ist, und er präsentiert nicht nur seine Theorie, nein, er bleibt dabei, selbst nachdem ich ihm sage, dass sie nicht passt. Er blieb und ist vermutlich weiterhin der Meinung, dass ich mich nicht ganz wohlfühle, und deshalb krank wurde.
Dieses Muster ist in so ein bisschen esoterisch, energetisch angehauchten Subkulturen gang und gäbe: Man deutet Phänomene, was das Zeug hält. Bei den eigenen Phänomenen finde ich das ganz okay. Unabhängig ob es nur sense-making ist oder tatsächliches Herausfinden, die Beschäftigung mit Befindlichkeiten ist voll in Ordnung.
Aber sobald es an anderer Leute Phänomene geht, finde ich diese Deutungen frech, zumal die Deuter häufig so verdammt sicher sind. Und wenn man widerspricht, ist das nur ein Beweis, dass man sich der Deutung verweigert, weil sie nämlich eigentlich genau passt, und das tut weh. Ha! Ich kenn dich zwar keine 48 Stunden, aber ich weiß jetzt schon besser über dich Bescheid als du. Und wenn du dich über diese Anmaßung aufregst, dann nur, weil ich recht habe.
Dieses Muster ist in der klassischen Psychoanalyse übrigens ebenfalls anzutreffen, und ist der Grund, warum ich davon nichts halte. Wenn die Deutungshoheit bei jemand anderem ist, halte ich das für Gewalt. Deutungen über andere sind Gewalt.
Man ermächtigt sich durch Deutungen der Sache, die man deutet, und im Falle von Phänomenen im Leben eines anderen, ermächtigt man sich dieser Phänomene, reißt sie aus dem Deutungsgefüge der Betroffenen und vergewaltigt sie. Du denkst, du seist verliebt? In Wirklichkeit hast du nur Angst vorm Alleinsein. Du denkst, du seist unabhängig? In Wirklichkeit hast du nur Angst vor der Bindung. Die Themen sind beliebig, es geht nicht um sie, es geht um das Muster: Es wird gedeutet, anstatt nachzufragen. Das ist Gewalt, weil es den Deuter über den anderen erhebt, er wird dadurch mächtiger, und er dringt in das Privateste ein, das wir haben: Unsere Sicht von uns selbst.
Bei dieser Sicht von uns selbst gibt es keine Wahrheit, wenn ihr mich fragt. Wir erzählen Geschichten über uns selbst, wir fassen Fakten zusammen um uns zu verstehen. Jemand anders kommt daher und fasst die Fakten anders zusammen, und verändert damit die Wahrheit. Das ist okay, wenn es liebevoll geschieht, und in dem Wissen, dass die neue Deutung möglicherweise falsch ist. Aber als “Pass mal auf, ich erzähl dir mal, wie du wirklich drauf bist” ist es Gewalt.
Ihr merkt: Ich bin stinksauer über diesen Deutungsversuch durch den Teilnehmer. Zynischerweise habe ich diesen Ärger nicht herausgelassen, weil ich wusste, er würde missverstanden als Reaktion auf die korrekte Deutung. Schon habe ich mich der Gewalt Untertan gemacht. Eigentlich war ich wütend, aber innerhalb der Deutung dieses anderen Menschen wäre meine Wut ein Beleg für seine Deutung gewesen, also habe ich sie lieber ruhen lassen.
Ich glaube, das war falsch. Seine Deutung ist im Raum, aber sobald ich sie irgendwie berücksichtige in meinen Handlungen, nähre ich sie schon. Stattdessen würde ich lieber ganz frei sein davon, und einfach bei mir bleiben, meine eigene Welt durch meine eigenen Deutungen erfahren. Ich hatte ja sogar schon eigene Deutungen meiner Krankheit. Ich hätte mich gefreut, wenn er mich wirklich danach gefragt hätte, aber er hat nur seine These beweisen wollen.
Herrje, was muss man gut auf sich aufpassen. Diese Deutungen stellen sich einem überall an den Wegesrand und rufen dir die Lügen zu, und sobald du sie zu entkräften versuchst, hat der Rufer schon gewonnen.
Fragen statt deuten. In der lösungsfokussierten Therapie, die ich gelernt habe, lernt man genau das. Und es wird mir heiliger, je öfter jemand mir eine Deutung links und rechts um die Ohren haut.
Hallo J.!
Ich möchte mich bei dir für diesen Gedanken bedanken. Manchmal muss man von anderen auf etwas gebracht werden, die Reflexion anderer nachvollziehen und nachempfinden (können), um selbst zu einer Einsicht zu gelangen. Zuerst fand ich deine These, eine derartige Deutung sei Gewalt für etwas überzogen, ein wenig zu stark – denn Gewalt als solche zieht noch eine Unmenge an Folgeerscheinungen in vielerlei Hinsicht nach sich! Nach und nach hat sich aber bei mir Verständnis für genau dieses Wort gemeldet und inzwischen muss ich dir einfach zustimmen. Ich werde mir diese Behauptung samt deiner (und meiner eigenen) Reflexion hinter die Ohren schreiben und versuchen, in Zukunft bezüglich solcher Deutungen besser aufzupassen.
Interessant fand ich auch, dass du neben der “Esotherik” zusätzlich noch die Psychoanalyse hier miteinbeziehst. Mit dieser muss ich mich gerade in meinem Philosophiestudium auseinandersetzen und halte deine These – je länger ich meine bisherigen Informationen über diese Praxis miteinbeziehe – für eine starke Kritik. Du nennst jedoch explizit die “klassische” Psychoanalyse: Gibt es hier gravierendere Unterscheidungen? Meine Informationen sind aufgrund des Teilcharakters der Psychologie für mein Studium nur sehr spärlich – jedoch findet der von dir ausgeführte Aspekt hier ein Ziel.
Ich weiß, dass meine Kommentare zu Blogs immer etwas länger werden. Falls auch du – wie andere – damit ein Problem hast, antworte einfach nicht. Ich würde mich jedoch über eine Antwort hier (oder per Email) freuen.
Viele Grüße,
Pic.
Hi Pic,
kommentiere so lang du magst! Freut mich, dass der Artikel etwas in dir angerüht hat.
Zu deiner Nachfrage mich der klassischen Psychoanalyse: Ich glaube, dass auch die Psychoanalyse nicht stehengeblieben ist, und dass die moderne Psychoanalyse das etwas anders macht – bei der aus der Psychoanalyse entstanden Tiefenpsychologie weiß ich es sogar, die machen vieles auf eine Art, die mir besser gefällt. Ganz klassisch aber hat der Therapeut die komplette Deutungsmacht. Beispiele, die ich gelesen habe (von Vertretern der Analyse, wohlgemerkt) haben mir immer wieder deutlich gemacht, dass man als Klient dort irgendwie nichts zu sagen hat. Was ein Traum bedeutet, was ein offener Hosenstall bedeutet… alles Sache des Therapeuten. Klienten träumen nur und vergessen ihre Hose zuzumachen, die Deutung steht ihnen nicht zu.
Schlimm, wie ich finde.
Hallo J.!
Da bekommt man ja richtig “Angst”! Wieviele Leute sind denn dann “kränker” als sie es “wirklich” sind, weil, irgendso ein übereifriger Psychoanalytiker mit seiner Deutung -> gewaltsam <- dem Klienten eine Krankheit oktroyiert… Nunja. Aber da schneide ich zusehr ein Thema heraus.
Ich habe aber deine These von der Gewaltsamkeit einer Fremd-Deutung in den letzten Tagen mehrfach bei verschiedenen zwischenmenschlichen Situationen in meinen Gedanken erwägt. Vielleicht habe ich dadurch etwas übertrieben – aber ich vermute, dass diese von dir beschriebene Problematik in vielfältiger Variation auch etwas unterschwelliger auftreten kann. Wenn man das allerdings "Gewalt" nennt, wird das Ganze sehr seltsam. Dann nämlich würden wir uns gegenseitig ständig Gewalt antun, wenn man meiner Einschätzung meiner erlebten Situationen diesbezüglich trauen kann.
Ich habe nicht viel Zeit für das Ausformulieren, deshalb versuche ich es etwas kürzer:
Wir gehen jeden Tag miteinander um, hören auch mal mehr als ein "gut" auf die Frage nach dem Befinden. Und diese Antwort wird in den meisten Fällen reflektiert – das ist quasi soziale Praxis, die sich in einer gewissen Weise bewährt hat. Interessanterweise ist zumindest in meinem Beobachtungsraum die jeweilige Deutung des (Gefühls-)lebens des Gegenübers häufig absolut gesetzt worden. Nun: Ein Aspekt – dass man mit dem Zurwehrsetzen diese Deutung gleich noch verstärkt – ist hier nicht so stark ausgeprägt. Es ist vielmehr ein Aufdrücken gegen das man sich wehren sollte. Aber da ist natürlich implizit der Gedanke dabei, dass niemand den eigenen Gefühlen so nahe steht (unmittelbarer Zugang) wie man selbst.
Diese Deutung des anderen hat aber interessanterweise einen sozialen Wert – denn wenn man die Gefühlslage des anderen nicht irgendwie interpretiert und deutet, davon überzeugt ist und vielleicht – und das ist wohl der Gewaltakt – dem anderen als absolute Meinung unterjubelt, dann hat man selbst nichts mehr, woran man sich in seinem Verhalten diesem Menschen und dessen Gefühlen gegenüber "richtig" verhalten kann. Sprich: Wenn meine Deutung deines Gefühlslebens nicht richtig sein sollte, dann kann ich auch mein Verhalten dir gegenüber nicht auf diese Deutung stützen. Doch auf was soll ich sie denn dann stützen? Auf deine eigene Deutung, die du mir erst vermitteln musst und die gänzlich gegen meine Wahrnehmung und sogar gegen mein Weltbild spricht!? (siehe deine Massageerfahrung: Der "Neue" hatte diesbezüglich eine tiefe Überzeugung – so wie ich das lese) Aber dann würde ja für mich alles in irgendeiner Form zusammenbrechen und ich hätte wiederrum ein Problem über das ich nicht nachdenken will.
Die eigenen Überzeugungen über das eigene Handeln und die eigene Ansicht der Welt sind manchmal so grundlegend, dass man sich ganz auf sie versteifen möchte (und evtl auch muss), um "überleben" zu können. Vielleicht könnte man das Problem an einem traumatischen Erlebnis demonstrieren: Das Erlebnis könnte verdrängt werden, weil es die eigene Vorstellung von einer "heilen Welt" in grundlegender Weise erschüttert (aber dafür habe ich zuwenig Psychologiewissen = Ich weiß zuwenig von der Erklärung der Psychologie).
Nunja. Vielleicht wird deutlich, worauf ich hinaus will.
Denn insofern kann man diesen von dir beschriebenen Gewaltakt sogar verstehen, wenn dahinter derartige "Gefahren" liegen _können_. Nichtsdestotrotz glaube ich, dass man dem Kind wirklich den Namen "Gewalt" geben kann. Und ich glaube auch, dass man selbst im Umgang mit anderen Menschen in diesem Punkt aufpassen muss. Vielleicht ist es besser, sich selbst in die Gefahr zu begeben, dass am eigenen Weltbild und den eigenen Überzeugungen gerüttelt wird, anstatt einem anderen gewaltsam dieses und jene aufzudrücken?
Viele Grüße,
Pic.
Hm. Ich sehr irgendwo noch eine Grenze, ich habe nämlich sehr selten das Gefühl, dass Deutungsgewalt passiert, und spüre sehr deutlich, wenn es der Fall ist. Wenn mich jemand fragt, ob’s mir gut geht, ist das keine Gewalt – aber vielleicht habe ich das falsch verstanden.
Wenn ich sage “Mir geht’s gut”, und mein Gegenüber sagt “Ach komm, du deckelst doch nur deine Trauer wegen der Trennung”, dann wird’s gewaltsam. Dann sollte er besser sagen “Echt? Spielt die Trennung gerade keine Rolle?”, denn dass er eine Interpretation der Welt hat und mich darin versteht, ist erstmal okay. Er soll nur nicht glauben, dass sie für mich auf jeden Fall stimmen muss.