Gestern bei meiner Ausbildung sprachen wir übers Psychologisieren, also über das Zuschreiben von internen Motiven zu bestimmten Handlungen.
Wenn beispielsweise jemand auf eine Tür zugeht, die Klinke berührt, dann aber doch umdreht, gehen die Erklärungen im Kopf ab. Der hat was vergessen, der ist verwirrt, der hat Angst davor, da reinzugehen.
Das Spiel geht dann weiter, wenn jemand erzählt, dass er denkt, dass derjenige Angst hat, und die nächste Person mutmaßt “Na, wenn du da Angst reininterpretierst, scheinst du ja Angst zu haben…”.
Es ist ein recht starkes Vorurteil über Psychologen, dass die das am laufenden Band machen. “Sie schauen so komisch, verbergen Sie etwas?”, “Sie riechen so streng, hassen Sie mich?”, “Sie sitzen so vorgebeugt, wollen Sie etwas loswerden?”.
Ich halte das Vorurteil weitgehend für Unfug. Was uns Psychologen diesbezüglich auszeichnet, sind 2 Dinge.
Erstens achten wir in der Tat mehr auf sowas. Zugegeben. Das ist aber nichts, was das Studium aus uns macht, sondern etwas, weswegen wir Psychologie studiert haben. Uns interessieren Menschen. Genau wie viele andere Leute auch, nur dass die halt nicht Psychologie studiert haben. Die Kausalität des Vorurteils ist falschrum.
Zweitens, und das kommt in der Tat aus dem Studium oder eben, wenn man Therapeut wird, spätestens aus der Therapeutenausbildung, eine erhöhte Bewusstheit dafür, dass man psychologisiert.
Denn alle Menschen tun das. Das ist sensemaking, so verstehen wir die Welt, und daran gibt es nichts auszusetzen. Es wäre sogar schlimm, wenn das nicht geschähe, und man einen weinenden Menschen nicht tröstete, weil man ja nicht von seinem Verhalten auf die Psyche schließen wollte.
In gewissen Kontexten aber bedeutet Psychologisieren eine gewisse Macht. Das ist ein Vorwurf, den die klassische Psychoanalyse oft hört, in meinen Augen durchaus zu Recht: Die Definitionsmacht liegt beim Therapeuten. Wenn die Therapeutin sagt “Sie hassen Ihre Eltern”, und zurückkommt “Nein, Quatsch!”, kann immer kommen “Sehen Sie? Verdrängung…”. Die Therapeutin hat immer Recht, sie definiert Wahrheit, sie definiert Realität. Und zwar die Realität des Klienten.
Psychisch krank zu sein entscheidet man nie selbst. Das entscheiden immer andere. Du bist nicht normal.
Diesen Aspekt des Psychologisierens muss man als Therapeut bewusst haben. Wenn ich jemandem sage “Ah, und deswegen sind sie traurig” habe ich Macht übernommen, habe eine Suggestion gesetzt, einen Kausalzusammenhang ins Spiel gebracht. Das lässt sich nicht immer verhindern, wie gesagt (auch wenn offene Fragen meist eine gute Idee sind), aber es bedarf in dem Job einer großen Fähigkeit, sich selbst wieder in Frage zu stellen, die eigenen Hypothesen als genau das zu erkennen. Hypothesen. Eigene.
Gestern abend im Bett fiel mir auf, dass das auch für einen selber gilt. Ich habe Macht über mich, das ist ja auch per se was Gutes, aber natürlich führt auch meine eigene Psychologisierung dazu, dass ich Sinnzusammenhänge konstruiere. Auf “konstruieren” liegt die Betonung, denn im Zweifel gibt es sie nicht. Viel trägt dazu bei, wie ich mich selbst deute.
Um ein kurzes Beispiel zu nennen: Schachter & Singer haben irgendwann in den 60ern, wenn ich nicht irre, als es noch keine Ethikkommissionen gab, Leuten Adrenalin gespritzt, wobei gesagt wurde, es wäre irgendein Medikament. Gruppe A wurde informiert, dass die Nebenwirkung großer Ärger sein könnte, Gruppe B wurde gesagt, es sei großer Enthusiasmus.
Und siehe da… die Leute interpretierten sich selbst, und zeigten exakt die ihnen vorgegebene Emotion.
Wir deuten uns selbst. Unser Nervensystem schickt nur Nullen und Einsen ins Gehirn. Was das Gehirn dann draus macht, kommt auf zig Faktoren an. War da wirklich ein Geräusch? Nein, ich hab es mir eingebildet. Was ist Wahrheit? Die Nullen und Einsen, die ankommen? Oder der Auslöser der Nullen und Einsen? Ist es dann egal, ob der im Innen oder im Außen ist (Stichwort Halluzinationen – ist das Pferd für alle anderen auch da: Gut. Sieht man es nur selbst: Schlecht).
Wir haben die Definitionsmacht für uns selbst. Wir bestimmen unsere Wahrheit. Wir psychologisieren uns. Wir sind der deus ex machina, wir finden einen Sinn in der Maschine, die wir selbst sind. Und genau wie für Psychologinnen mit Klientinnen gilt auch für uns: Vorsicht! Psychologisieren macht etwas mit mir.
Es wäre sinnvoll, die Deutungen über einen selbst so zu wählen (und wählen tun wir am laufenden Band), dass man am Ende gestärkt ist.