ben_ von Anmut und Demut fragt in den Kommentaren zu “Der freie Wille folgendes:
Sehr gute Frage! Immerhin habe ich nach dem Film sehr deutlich den Gedanken gehabt: Gut, dass ich jetzt keine Frau bin und allein nach Hause gehen muss, da hätte ich Angst. Auch so schon hat mein Sicherheitsgefühl für den Abend sehr gelitten, aber ich stelle mir vor, dass der Schrecken für eine Frau durch die bloße größere Möglichkeit schlimmer ist (auch wenn sie, das Universum sei gepriesen, immer noch recht gering ist, auf offener Straße passiert ja doch sehr wenig).
Was ich als Erleben schon kenne, und was mir überhaupt nicht gefällt, ist die diffuse maskuline Grundschuld, die es einem Mann zum Beispiel schwer macht, sich einfach mal auf den Kinderspielplatz zu setzen, die dazu führt, dass Frauen sich auf einen Angriff vorbereiten, wenn ich im schwarzen Mantel an ihnen vorübergehe, die mich dazu verleitet, abends so aus der Bahn auszusteigen, dass ich vor der Frau laufe, die auch aussteigt, damit ich nicht hinter ihr her gehe, und, dank meiner langen Beine, langsam immer näher komme.
All das finde ich fürchterlich. Ich bin eigentlich ein guter Mensch, mein Penis macht mich zu keinem Verbrecher, und es ärgert mich, trotzdem das Verbrecherschema immer aktiv halten zu müssen, um davon abzuweichen, es gerade nicht zu erfüllen.
Dieses Gefühl war nach dem Film noch stärker. Im Leben hätte ich an diesem Abend mit keiner Frau geflirtet, hätte keinem Blick standgehalten. Viel zu groß wäre meine Sorge gewesen, dass das missverstanden würde, dass es unpassend oder sogar bedrohlich wirken könnte. Insofern ist Theos Gefühl, dass solche Situationen immer verzerrt sind durch seine Vergangenheit, auf mich übergegangen: Theos Vergangenheit hat meinen Abend verzerrt.
Im Grunde ist auch das schrecklich. Menschen sind Menschen, sie sind soziale und sexuelle Tiere, und das sind beides gute Eigenschaften. Wenn junge Männer und junge Frauen sich attraktiv finden, schauen sie einander an, lächeln, schauen wieder weg, fühlen sich begehrenswert und gehen mit einer Scheibe mehr Ego nach Hause. Das ist etwas Gutes.
Der Film aber dreht das um. Alles, was sexuell ist, scheint nachher schmutzig und bedrohlich, weil bei der Beobachtung von Theo auch schöne Situationen immer durch die Brille des “Ex-Vergewaltigers” betrachtet werden, und auch betrachtet werden müssen. Diese Brille habe ich so schnell nicht wieder abnehmen können.
Allerdings gehe ich ganz stark davon aus, dass dieser Effekt für Frauen gleichermaßen vorhanden ist, nur dass das resultierende Gefühl weniger diffuse Schuld, sondern eher diffuse Bedrohung ist.
Insofern hat der Film also nur geschafft, was ein Film zu schaffen hat: Eine Identifikation mit den Figuren. Die Archetypen des Mannes, der seinem Trieb nicht Herr wird, und der Frau, die Opfer dieses Mannes wird, sind stark genug, um sich auf die Zuschauer zu legen.
Insofern, ben_, ist meine Wahrnehmung des Films durchaus beeinflusst, denn der Film erzählt nunmal von zwei Figuren, von denen eine uns Männer mehr berührt. Aber in gewisser Weise bekommt man natürlich beide Figuren mit, und mein Mitgefühl sowohl für Netty, die den Mann liebt, der all diese Dinge tut, wie auch für die Opfer, könnte größer nicht sein. Außer vielleicht, ich wäre eine Frau, aber wie soll man das wissen?