“Form follows function” ist ein Satz aus der Designbranche – egal ob man ein Haus, eine Website, einen Stuhl, eine Fernbedienung oder einen Düsenjäger designt, die Form muss der Funktion folgen. Eine kreisrunde Fernbedienung mit unbeschrifteten Knöpfen sieht bestimmt schick aus, ist aber unbrauchbar. Ebenso ein Stuhl, der mit Schleifpapier beklebt ist, eine Website deren Menü sich immer verändert oder ein Düsenjäger-Cabriolet und gleichfalls ein Haus mit Türen von 20 cm Breite.
Das ist aber nicht nur ein Satz aus der Designbranche, das ist auch schlichte Realität. In der Natur beispielsweise: Es entsteht nur, was eine Funktion hat. Sei es Schutz, Sieg, Balz oder Hilfe. Schneckenhäuser, Vogelschnäbel, Fellfarben, Daumen. Form follows function.
Mir fiel vor kurzem auf, dass man den Satz auch für Liebesbeziehungen verstehen kann, wobei “function” da etwas kühl klingt. Aber: Jeder von uns funktioniert auf eine bestimmte Art und Weise. Dieses Funktionieren muss mit in die Beziehung rein – ich muss auch in Beziehung natürlich der Mensch sein können, der ich nunmal bin. Die Form der Beziehung muss meiner Funktionsweise Raum geben und sich um mich legen wie ein gut sitzender Anzug: Form follows function.
Ganz häufig läuft das aber nicht so, und das individuelle Funktionieren muss sich der Form unterordnen: Weil wir ein Paar sind, wollen wir jetzt auch gemeinsam wohnen. Weil ich jemanden liebe, hole ich ihn vom Zug ab. Weil ich ein guter Partner sein will, höre ich mir die langweiligsten Geschichten bis zu Ende an.
Diese Art der Lebensgestaltung, so mein Vorwurf an die Welt, läuft den Bedürfnissen der Beteiligten entgegen. Aber um diese Beteiligten geht es! Sie sind die “function”! Menschen gehen doch Beziehungen ein, weil sie einander (und für sich selbst) Gutes wollen. Wenn sie irgendwann beginnen, sich der Form entsprechend zu verhalten, achten sie nicht mehr auf sich – sie folgen in ihrer Funktion der Form.
Stattdessen sollten sie die Form gestalten, und zwar entsprechend der Funktion, also ihrer Eigenheit, ihrem Wirken in der Welt. Sie sollten das leben, was genau zu ihnen passt. Wenn sie keine Lust haben, jemandem vom Zug abzuholen, dann sollten sie sich eine Beziehung basteln, in der das nicht vorkommt. Wenn sie sich nicht gut fühlen bei hemmungslosem Sex, dann sollte es in ihrer Beziehung kein Marker von Beziehungsqualität sein, besinnungslose Körperzeit zu haben. Gleichzeitig ist dies auch die Haltung, die es meinen Partnern entgegenzubringen gilt: Ich gestalte die Form – so gut ich kann – so, dass sie darin funktionieren können.
Und “form follows function” ist dann eben nicht nur ein Designgrundsatz oder evolutionäres Prinzip, sondern maximales Ernstnehmen dessen, was man ist, lieber Umgang damit, wie man selbst und das andere nun mal funktioniert.
Dazu passt im Übrigen gut, dass der Ursprung des Satzes (laut Wikipedia) bei einem amerikanischen Architekten namens Louis Sullivan liegt, dessen Ausspruch weit über das Architektonische hinausgeht:
It is the pervading law of all things organic and inorganic,
Of all things physical and metaphysical,
Of all things human and all things super-human,
Of all true manifestations of the head,
Of the heart, of the soul,
That the life is recognizable in its expression,
That form ever follows function. This is the law.
Zu deutsch:
Es ist das alles durchdringende Gesetz aller Dinge,
ob organisch oder nicht organisch,
ob physisch oder metaphysisch,
ob menschlich oder übermenschlich,
aller wahren Manifestationen des Kopfes,
des Herzens, der Seele,
dass das Leben in seinem Ausdruck erkennbar ist,
dass die Form immer der Funktion folgt. Dies ist das Gesetz.