“Form follows function” ist ein Satz aus der Designbranche – egal ob man ein Haus, eine Website, einen Stuhl, eine Fernbedienung oder einen Düsenjäger designt, die Form muss der Funktion folgen. Eine kreisrunde Fernbedienung mit unbeschrifteten Knöpfen sieht bestimmt schick aus, ist aber unbrauchbar. Ebenso ein Stuhl, der mit Schleifpapier beklebt ist, eine Website deren Menü sich immer verändert oder ein Düsenjäger-Cabriolet und gleichfalls ein Haus mit Türen von 20 cm Breite.

Das ist aber nicht nur ein Satz aus der Designbranche, das ist auch schlichte Realität. In der Natur beispielsweise: Es entsteht nur, was eine Funktion hat. Sei es Schutz, Sieg, Balz oder Hilfe. Schneckenhäuser, Vogelschnäbel, Fellfarben, Daumen. Form follows function.

Mir fiel vor kurzem auf, dass man den Satz auch für Liebesbeziehungen verstehen kann, wobei “function” da etwas kühl klingt. Aber: Jeder von uns funktioniert auf eine bestimmte Art und Weise. Dieses Funktionieren muss mit in die Beziehung rein – ich muss auch in Beziehung natürlich der Mensch sein können, der ich nunmal bin. Die Form der Beziehung muss meiner Funktionsweise Raum geben und sich um mich legen wie ein gut sitzender Anzug: Form follows function.

Ganz häufig läuft das aber nicht so, und das individuelle Funktionieren muss sich der Form unterordnen: Weil wir ein Paar sind, wollen wir jetzt auch gemeinsam wohnen. Weil ich jemanden liebe, hole ich ihn vom Zug ab. Weil ich ein guter Partner sein will, höre ich mir die langweiligsten Geschichten bis zu Ende an.

Diese Art der Lebensgestaltung, so mein Vorwurf an die Welt, läuft den Bedürfnissen der Beteiligten entgegen. Aber um diese Beteiligten geht es! Sie sind die “function”! Menschen gehen doch Beziehungen ein, weil sie einander (und für sich selbst) Gutes wollen. Wenn sie irgendwann beginnen, sich der Form entsprechend zu verhalten, achten sie nicht mehr auf sich – sie folgen in ihrer Funktion der Form.

Stattdessen sollten sie die Form gestalten, und zwar entsprechend der Funktion, also ihrer Eigenheit, ihrem Wirken in der Welt. Sie sollten das leben, was genau zu ihnen passt. Wenn sie keine Lust haben, jemandem vom Zug abzuholen, dann sollten sie sich eine Beziehung basteln, in der das nicht vorkommt. Wenn sie sich nicht gut fühlen bei hemmungslosem Sex, dann sollte es in ihrer Beziehung kein Marker von Beziehungsqualität sein, besinnungslose Körperzeit zu haben. Gleichzeitig ist dies auch die Haltung, die es meinen Partnern entgegenzubringen gilt: Ich gestalte die Form – so gut ich kann – so, dass sie darin funktionieren können.

Und “form follows function” ist dann eben nicht nur ein Designgrundsatz oder evolutionäres Prinzip, sondern maximales Ernstnehmen dessen, was man ist, lieber Umgang damit, wie man selbst und das andere nun mal funktioniert.

Dazu passt im Übrigen gut, dass der Ursprung des Satzes (laut Wikipedia) bei einem amerikanischen Architekten namens Louis Sullivan liegt, dessen Ausspruch weit über das Architektonische hinausgeht:

It is the pervading law of all things organic and inorganic,
Of all things physical and metaphysical,
Of all things human and all things super-human,
Of all true manifestations of the head,
Of the heart, of the soul,
That the life is recognizable in its expression,
That form ever follows function. This is the law.

Zu deutsch:

Es ist das alles durchdringende Gesetz aller Dinge,
ob organisch oder nicht organisch,
ob physisch oder metaphysisch,
ob menschlich oder übermenschlich,
aller wahren Manifestationen des Kopfes,
des Herzens, der Seele,
dass das Leben in seinem Ausdruck erkennbar ist,
dass die Form immer der Funktion folgt. Dies ist das Gesetz.

Ich schrieb vorhin über die emotionale Identität – das ist ein Begriff, den ich für eine polyamore Haltung zu Liebe und Beziehungen wähle, oder, im eigentlichen Sinne, für jede Haltung zu Liebe und Beziehungen.

Der Begriff ist analog zu sexuelle Identität gewählt, der in meinem Verständnis umfassendste Begriff für alle Empfindsamkeiten zwischen Homosexualität, Transsexualität oder Bigenderism oder Hetero.

Aber in meinem Begriffssystem geht es nur sekundär um Sex. Das verstehen ja viele Leute miss. Mit verschiedenen Menschen Körperzeit zu teilen ist ein Nebeneffekt davon, wenn man frei und voller Liebe ist, erstmal geht es um eine bestimmte Art und Weise, sich auf jemanden einzulassen.

Diese Art, sich einlassen zu wollen, also die ganz individuell präferierte Art und Weise, zu lieben, Liebe auszudrücken, Liebe auszugestalten, ist die emotionale Identität.

Ich werfe den Begriff mal ins Internet und in Geschlechter-/ Liebes-/ Beziehungsdiskurse.

Mir begegnet in jüngster Zeit, wo ich mit Ava in einer recht großen Krise stecke (ungefähr eine 6,5 auf der Richter-Skala), immer wieder ein Missverständnis, das mich ärgert. Ich erzähle dann Menschen davon, dass wir da an einem schwierigen Punkt sind, und eine der ersten Reaktionen ist eine Variante von “Naja, das ist ja sicher auch schwer mit dem Poly-Kram”. Oder, was ich noch brutaler finde “Vielleicht ist die Ava eben doch an einer monogamen Sache interessiert”.

Beides geht an der Realität vorbei, dass uns allen in Beziehung Dinge widerfahren, wir uns mit uns selbst auseinander setzen, weil wir eben in Beziehung stehen. Wir erleben uns darin. Der erste Einwurf (“poly macht das sicher schwierig”) schiebt jede Schwierigkeit auf die Polyamory, was nicht nur frech ist (weil es Poly irgendwie angreift) sondern vor allem respektlos (weil es mein Erleben auf den Lifestyle reduziert, weil es nicht anerkennt, dass im Einlassen die krassen Sachen geschehen.

Der zweite Einwurf (“Ava ist doch monogam”) macht das gleiche, und noch oben drauf unterstellt er Ava, sie wüsste nicht, was sie täte. Dahinter steckt die Annahme, dass Polyamory eine so grundsätzlich schlechte und perfide Idee ist, dass man da drin total kaputt gehen muss, dass man sich unversehens in einem schlimmen Chaos widerfindet. Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um.

Man stelle sich vor, Lesben und Schwulen würde bei jeder Beziehungskrise unterstellt, ihr Partner sei eben vielleicht doch hetero, oder bei jeder Schwierigkeit hieße es: Naja, ist ja sicher auch schwierig, so mit zwei Frauen (oder eben zwei Männern).

Oder, noch besser, man stelle sich vor ich würde auf die Krisen von vanilla mono Heteros und Heteras immer fragen, ob sie denn sicher wären, dass ihre Partner nicht kinky/ schwulesbisch/ poly sind, und ob das nicht ohnehin schwer wäre so monogam.

Das ist doch alles nicht loving und respecting, das ist doch in Unverständnis gewickelte Missachtung.

Fucking frozen hell. Es ist eine 6,5 – ich brauche Zuspruch und Unterstützung, und was bekomme ich? Dummes Infragestellen meiner emotionalen Identität.

Es frühlingt, die Krusten brechen auf, man streckt die Fühler aus… aber seien wir ehrlich, es ist durchaus noch kühl. Ich jedenfalls merke, wie die Veränderungsprozesse losgehen (Aufbruch! Wandel! Erneuerung!) und ich förmlich sehen kann, wie sie mich durch den Fleischwolf drehen (Scheiße! Schwierig! Altbekannt!).

Gestern hatte ich den Gedanken, dass diese ganze Idee von Veränderug und Entwicklung vielleicht Unfug ist. Der Entwicklungsgedanke war vor einiger Zeit schonmal Thema bei mir (nicht gebloggt), und da ging es vor allem darum, wie sehr er im Subtext immer bedeutet, dass man nicht in Ordnung ist, wie man ist. Wenn ich das nämlich mehr glaube, brauch ich keine Therapie, kein Yoga, keine persönlichen Fortschritte: Dann bin ich einfach ich.

Das ist natürlich überhaupt nicht einfach, sondern schwer, womit wir zum heutigen Gedanken kommen. Der baut auf dem alten auf.

Vielleicht, so dachte ich, gibt es überhaupt keine Entwicklung. Okay, vielleicht in der Pubertät, da hat sich schon viel getan, aber vielleicht geht es später nicht darum, etwas zu lernen, sich zu verändern, sondern vielleicht geht es nur darum, mit sich selber umzugehen (Randnotiz: Pubertät könnte man sogar auch so verstehen).

Man findet ja immer mehr über sich heraus, und vielleicht geht es nur darum, diese ganzen Erkenntnisse angemessen zu behandeln. “Oh, ich bin empfindlich?” kann heißen “Ich will Stärke lernen” oder eben “Wow, dann sollte ich vorsichtig sein”. Wenn ich mein Sein als grundlegend gut betrachte, und nicht als defizitär, dann bleibt mir nur der liebevolle Umgang mit mir.
Ich schiebe Filme bei einem bestimmten Thema? Da sollte ich schön langsam machen und gut auf mich aufpassen.
Ich reagiere über, wenn man mich kränkt? Mehr Leute, die mich liebevoll behandeln und mir erlauben, gekränkt zu sein.

Das soll nicht unbedingt heißen, dass man sich nicht verändern darf. Eher, dass man es nicht muss. Man muss nur mit sich umgehen.

Ich habe den Anspruch an mich selbst, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen, es zu gestalten. Nicht gelebt zu werden, sondern eben zu leben. Die Gedanken aus dem hervorragenden hard science-fiction Roman “Parable of the Sower” passen sehr gut dazu. Darin entwickelt die Protagonistin eine sehr glaubbare Religion um dem zentralen Satz: God is change. Gott ist Wandel. Und die angemessenste Form des Dienstes an diesem Gott ist, den Wandel zu gestalten, Teil des Wandels zu sein.

Pray to focus your thoughts,
still your fears,
strengthen your purpose.
Respect God.
Shape God.

Diesem Gestalten meines Lebens steht einiges entgegen. Immer zwischendurch erscheint mir das alles zu groß, zu schwierig, zu viel für ein armes kleines Menschlein allein. Oder ich fühle mich einfach zu faul, möchte mich zu gern einrichten in den Status Quo in dem naiven Wunsch, irgendwie wird es schon alles, und ich möchte nicht ständig ackern.

Wie will ich wohnen? Wie will ich leben und lieben? Das steht gerade an, und ich merke, die Gestaltung dieser Lebensbereiche ist quite challenging. Zwei Frauen, die ich liebe, mit denen gerade mehr eingestiegen wird in die Prozesse (von mir und ihnen), was mich umso mehr in die Situation bringt, es gestalten zu wollen, ja: gestalten zu müssen. Die Energie in diesen Prozessen ist wie eine Flut: Wenn ich keine Kanäle grabe, läuft sie sonstwohin und überschwemmt alles, was mühsam großgezogen wurde. Aber ich will die Prozesse kultivieren, ich brauche gute Gräben, ich will keine Auenlandschaft und dann mal sehen wie’s wird. Wasser ist gut, aber es muss gelenkt werden.

The Self must create
Its own reasons for being.
To shape God,
Shape Self.

Ich weiß gar nicht, wo ich hin will mit diesem Artikel. Ich glaube, ich will einmal deutlich machen:

Alter, alles muss gestaltet werden, alles muss gebaut werden, das eigene Leben wartet nicht im nächsten Tag, es wird in jedem neuen Heute aus dem Boden gestampft, und verdammtnochmal, das ist aber oft auch wirklich eine harte Arbeit.

Nicht, dass ich das gerne anders hätte. Es ist richtig, genau wie es ist. Ich wünschte nur, ich hätte ein bisschen mehr Power dafür, und könnte es besser.

As wind,
As water,
As fire,
As life,
God
Is both creative and destructive,
Demanding and yielding,
Sculptor and clay.
God is Infinite Potential:
God is Change.

Ich kam mit Ava an einen Punkt, den ich so oder ähnlich schon kannte, und diesmal kann ich ihn besser benennen: Es ist der Punkt, an dem alles mit der Beziehung zu tun hat. Es ist die Meta-Falle.

Ich brauche Zeit für mich, und das hat dann mit der Beziehung zu tun. Ich habe viel zu tun, und das hat dann mit der Beziehung zu tun. Ich hab einfach mal keinen Bock, Ava zu sehen, und das hat dann mit der Beziehung zu tun.
Es gibt dann kein “außerhalb” mehr. Selbst wenn ich mich dann kurz einfach mal auf mich konzentrieren will, um EINMAL wenigstens frei zu haben davon, dass alles immer mit der Beziehung zu tun hat, dann… hat selbst das wieder damit zu tun.

Das ist enorm tückisch (und, für’s Protokoll: Nicht Ava macht diese Falle auf, die ist in der Sache angelegt). Man kommt da schlecht raus, weil jedes “raus” sich wiederbeziehen lässt, und schon ist es wieder ein “rein”. Ein bisschen, als würde man die ganze Zeit krampfhaft versuchen, nicht an den blauen Elefanten zu denken. Oh Mist. Jetzt aber, jetzt denk ich nicht an den blauen Elefanten.

It can’t be done. Und diese Meta-Ebene macht einem die ganze schöne Begegnung kaputt, weil es nicht mehr möglich ist, dass ich von mir und sie von sich erzählt und wir zwei Menschen sind, nein, wir reden immer von uns. Alles was ich von mir erzähle, hat ja dann mit uns zu tun. “Ich war spazieren, ich dachte das tut mir gut”, “Ich will zurück bei mir ankommen”, alles Botschaften von der Meta-Ebene.

Ich bin einigermaßen wieder rausgekommen. Ich wusste recht früh: Das ist Unfug, was ich da mache, es wird nicht verlangt und nervt, und ich wusste auch: Man kann nichts einfach lassen, sondern muss etwas stattdessen tun. Und ich wusste sogar, dass dieses stattdessen irgendwie damit zu tun haben müsste, ganz bei mir zu sein, sodass da wieder zwei Menschen sind, die sich begegnen können, aber da hat’s dann gehakt (weil sich alles, was ich “für mich” gemacht habe, so angefühlt hat, als würde ich es irgendwie “für uns für mich” tun, also als würde ich es für mich tun, damit es uns hilft).

Aber ich kenne einen guten Homöopathen, und genau solche Knoten, solche Perpetuum Mobiles der Selbstzerfleischung, kann man da gut einmal auflösen um wieder klar zu sehen. Das war knapp. Nächstes Mal möchte ich da früher richtig abbiegen. Mal sehen.

Ich neige in Beziehungen dazu, mich zu verbiegen, und mich ein Stück weit zu verändern, damit ich – angenommenerweise – ein bisschen liebenswerter bin. Dazu mache ich gerade, wo ich ja in zwei Menschen verliebt bin und mich in Beziehung fühle, eine spannende Beobachtung: Es wird leichter. Die Tendenz ist immer noch da, aber es ist ein bisschen so, als wären da jetzt zwei Impulse mich zu verbiegen, und dadurch entsteht so ein Hin-und-Her, sodass ich viel öfter bei mir in der Mitte vorbeikomme.

Das ist natürlich total bescheuert und nur eine Krücke, solange das noch nicht so gut von alleine geht, aber es klappt ganz gut. Weil es, ganz nah an der gerade eingeworfenen Metapher, tatsächlich so ist, dass ich zunächst innerhalb meines Musters sowas denke wie “Oh, an dem Abend könnte ich zwar was mit dir machen, aber ich will auch noch Zeit für sie haben…”. Das ist innerhalb meiner Tendenz, alles richtig zu machen. Aber während ich dann sage “Ne, ich möchte dich erst dann-und-dann sehen, ich brauch noch Zeit für mich und Inari (oder eben für mich und Ava)” stelle ich in mir fest: Oh, vor allem brauch ich auch noch Zeit für mich.

Noch nicht am Ziel, aber recht hilfreich.

29.12.2009 17:13
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Allgemein

Es ärgert mich oft, wenn ich nach dem Warum für mein Handeln gefragt werde, und ich hab mir mal genauer angeschaut, warum.

Mir widerfährt das relativ oft:
Du, ich glaub ich hab keine Lust mehr zu spielen. – Wieso das denn?
Ich fahr jetzt. – Och, warum denn?
Wegen heute abend… ich hab leider doch keine Lust, ich muss absagen. – Echt, wie kommt das?

Aber in den meisten Fällen macht diese Nachfrage gar keinen Sinn.
Ich bin das Ende der Kausalkette meines eigenen Handels. Ich bin das sine qua non meiner Entscheidungen. Danach kommt nichts mehr. Danach muss auch gar nichts mehr kommen. Es ist eine ganz verrückte Idee, dass die eigenen Bedürfnisse eine Erklärung brauchen, um anerkannt zu werden. Das führt zu so viel Verwirrung und Leid. Wenn man als Junge auf Jungs steht, und gar nicht weiß warum. Wenn man nicht gern telefoniert. Wenn man keine Erdbeeren mag. Wieso das denn, wieso das denn, wieso das denn? Aber da gibt es kein Wieso, da gibt es nur ein “Ich”, das empfindet.

Kleiner Exkurs: Auch in der Psychologie gibt es Tendenzen, alles erklären zu wollen: Es liegt an der Kindheit, es liegt am Trauma, es liegt an der Lerngeschichte, es liegt am Vater, es liegt am Konflikt, es liegt an den Anderen, es liegt an den Genen. Und das mag als Theorie noch nichtmal uninteressant sein, aber auf individueller Ebene liegt es nicht an irgend etwas, es liegt einfach.

Und ich glaube, es stört mich, weil es eine Norm etabliert. Ganz viele Sachen werden nämlich nicht hinterfragt, und dadurch werden 2 Schubladen aufgemacht: So ist gut, so ist doof und erklärungsbedürftig. Kein Mensch fragt Fragen wie “Echt, ihr seid immer noch verheiratet? Warum das denn?” oder “Wirklich, dir gefällt BDSM nicht? Woran liegt das?”. Und damit ist die Nachfrage “Warum?” eigentlich ein Indikater einer Bewertung: Du bist gerade nicht normal. Du bist komisch. So solltest du nicht sein. Das ist schlecht, was du da empfindest.

Genau dagegen müssen wir uns alle wehren. Die Realität ist nicht gut oder schlecht. Sie ist einfach.

Das gilt, solange wir niemandem weh tun, für jeden einzelnen von uns.

Es gibt ein Bild, das mich in letzter Zeit begleitet, eine Metapher, die mich führt. Es geht dabei darum, nicht die Dämonen zu füttern. Auf gar keinen Fall. Das wirkt manchmal grausam, ist aber sehr wichtig.

Ein Beispiel aus der Kindererziehung: Ein Kind versucht, auf einen Stuhl zu klettern. Es tut sich schwer, es hat Probleme hinaufzukommen, also hilft irgendein Erwachsener und hebt es drauf. In diesem Moment hilft der Erwachsene meiner Meinung nach nicht dem Kind, sondern nur dem Dämon: Das Gefühl von “Ich kann das nicht” wird gefüttert und bestärkt, wird regelrecht gehegt, gepflegt, herangezüchtet. Machen Kinder solche Erfahrungen zu oft, trauen sie sich nichts mehr zu.

Aber das gibt es natürlich auch unter Erwachsenen. Wenn mich jemand besucht und sagt “J., ich bin so hilflos gerade, mir geht es so schlecht, ich leide ganz schlimm”, und ich darauf reagiere mit Sätzen wie “Oh je, du armes, armes Ding, das ist ja schlimm, komm, lass dich trösten und gut behandeln”, dann behandle ich nicht die Person gut, sondern den Dämon. Ich mache dem Dämon damit klar: Du bist willkommen. Bleib ruhig da. Mach’s dir bequem, ich kümmere mich um dich.

Das ist nicht liebevoll der Person gegenüber. Man verbündet sich mit den gerissensten Feinden.

Tatsächlich liebevoll ist es meiner Meinung nach, den Menschen ihre Probleme zu lassen, ihnen das Gefühl zu lassen, dass sie da unter etwas leiden. Das heißt nicht, sie im Regen stehen zu lassen! Jede Hilfe, den Dämon loszuwerden, ist wunderbar und schnafte. Zum Beispiel mit Sätzen wie “Oh je, das ist schlimm. Erzähl mal mehr”. Neben der Person zu stehen, und bei ihr zu sein, während sie sich dem Dämon stellt: Das halte ich für den Weg, und schätze diesen Umgang auch mit mir selber. Ich will nicht getröstet und geholfen sein, will keine Schonung: Ich will doch da durch, ich will den Kampf mit dem Dämon mitkriegen, will ihn gewinnen!

Aber Füttern wird den Dämon nicht los, Füttern macht ihn nur stärker. Füttern raubt die Möglichkeit, sich zu befreien, und sich ganz zu erfahren, eben auch im Leid und in der Hilflosigkeit. Das ist so ähnlich wie mit der heißen Herdplatte, was wir alle kennen: Es scheint liebevoll, ein Kind davor zu bewahren, die heiße Herdplatte anzufassen, aber tatsächlich gibt es kaum etwas wichtigeres als die eigene Erfahrung. Wie kann es liebevoll sein, jemandem die Erfahrung zu vermiesen?

Zärtlich, intensiv, authentisch und wunderbar” war die Beschreibung für die Beziehungen zu den beiden Frauen, die ich kennenlernen durfte.

Zweimal was ganz Eigenes” gehört aber zu der Beschreibung, denn sie sind eben nicht auf gleiche Art und Weise zärtlich und intensiv und so. Genau diese Eigenheit ist das Thema dieses Posts.

Ich habe ja immer behauptet, dass sich zwei Beziehungen schon allein deshalb nicht in die Quere kommen, weil sie völlig unterschiedlich sind. Jede Beziehung zu einem Menschen ist einzigartig und unvergleichlich. Und ich kann jetzt sagen:
Stimmt. Hab ich überprüft, kann ich bestätigen.

Mit Ava führe ich eine “Affäre” und genieße eine Art des Miteinanders, die den Idealen der Einfachheit und Selbstliebe folgt. Was will ich gerade? Was will der/ die andere? Das Ganze geschieht sehr praktisch, sehr direkt, und Ava hat sich sogar ausgebeten, weniger zu sprechen und mehr zu leben, mehr nachzuspüren, wie es gerade ist zwischen uns.

Mit Inari dagegen ist es primär die geistige Nähe und eine vorsichtige Zärtlichkeit, die uns verbindet. Wir sprechen stundenlang, begeistern uns an den gleichen Ideen und Werten, und sind uns Insel in dem Wust von feindlichen Definitionen.

Diese jeweilige Eigenheit zu erleben und anzuerkennen ist erstaunlich schwierig. Ich ertappe mich dabei, wie ich (mal so rum, mal so rum) denke: “Aber das ist doch jetzt eine richtige Beziehung, das andere ist doch irgendwie was anderes”. Oder ich verliere mich in dem Anspruch, beides müsste jetzt in irgendeiner Form gleich sein. So nach dem Motto: “Mist, gerade hab ich voll Lust auf ein Treffen mit Ava, hab ich eigentlich auch Lust auf Inari?”.
Aber immer wieder löst es sich auf. Immer wieder stelle ich fest: Genau so, wie es mit beiden ist, ist es perfekt. Und noch mehr: Jedes meiner Gefühle darf sein. Beide Beziehungen (!) sind anders – es geht nicht um die Unterschiede zwischen den beiden Menschen, es geht darum, dass auch meine Gefühle unterschiedlich sind. Ein Bestreben, sie gleich zu machen, läuft genau diesem Erleben der Eigenheit (= die andere Person als einzigartig und genau so richtig erkennen) zuwider.

Aber bei aller Schwierigkeit lerne ich sehr viel: Beispielsweise lerne ich (was mit der Eigenheit zusammen hängt), dass es ganz schön Kraft kostet, sich tatsächlich auf beide einzulassen. Zum Einen, weil ich emotional bei beiden richtig eingestiegen bin. Ich schwinge mit beiden mit, ich gehe da rein, und es ist eben schlicht die doppelte Menge an Emotion, wenn man so will. Zum Anderen erfordert es meine Aufmerksamkeit, mich jeweils neu einzulassen auf diejenige, die ich gerade treffe in all ihrer Einzigartigkeit.
Ich beginne bereits, mich in Ritualen wohl zu fühlen, die es mir ermöglichen, dieses Neu-Einlassen gut zu begehen. Zwischen Treffen mit den beiden brauche ich eine Pause, und wenn es nur eine halbe Stunde ist. Wenn ich mit Ava körperlich war, brauche ich unbedingt eine Dusche für mein Wohlgefühl. Ich möchte beiden fair begegnen, und dafür brauche ich Raum.

Heute beispielsweise brauchte ich einen Tag für mich. Auch das eine hilfreiche Lektion. Über die Feiertage gab es viel und unglaublich schönen Kontakt zu Ava wie Inari (wirklich mal ein Fest der Liebe, zur Abwechslung), was nicht nur meine Nächte kurz, sondern auch mein Leben reich gemacht hat. Jetzt brauchte ich Besinnung.

Und so komme ich über die reichliche Liebe, über die fantastische Begegnung, und über die Eigenheit der beiden zurück dahin, wo ich niemals weg wollte, und was ich doch mit Cullawine gelegentlich aus den Augen verlor: Zu mir und meinen Bedürfnissen.