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Es gibt ein Bild, das mich in letzter Zeit begleitet, eine Metapher, die mich führt. Es geht dabei darum, nicht die Dämonen zu füttern. Auf gar keinen Fall. Das wirkt manchmal grausam, ist aber sehr wichtig.

Ein Beispiel aus der Kindererziehung: Ein Kind versucht, auf einen Stuhl zu klettern. Es tut sich schwer, es hat Probleme hinaufzukommen, also hilft irgendein Erwachsener und hebt es drauf. In diesem Moment hilft der Erwachsene meiner Meinung nach nicht dem Kind, sondern nur dem Dämon: Das Gefühl von “Ich kann das nicht” wird gefüttert und bestärkt, wird regelrecht gehegt, gepflegt, herangezüchtet. Machen Kinder solche Erfahrungen zu oft, trauen sie sich nichts mehr zu.

Aber das gibt es natürlich auch unter Erwachsenen. Wenn mich jemand besucht und sagt “J., ich bin so hilflos gerade, mir geht es so schlecht, ich leide ganz schlimm”, und ich darauf reagiere mit Sätzen wie “Oh je, du armes, armes Ding, das ist ja schlimm, komm, lass dich trösten und gut behandeln”, dann behandle ich nicht die Person gut, sondern den Dämon. Ich mache dem Dämon damit klar: Du bist willkommen. Bleib ruhig da. Mach’s dir bequem, ich kümmere mich um dich.

Das ist nicht liebevoll der Person gegenüber. Man verbündet sich mit den gerissensten Feinden.

Tatsächlich liebevoll ist es meiner Meinung nach, den Menschen ihre Probleme zu lassen, ihnen das Gefühl zu lassen, dass sie da unter etwas leiden. Das heißt nicht, sie im Regen stehen zu lassen! Jede Hilfe, den Dämon loszuwerden, ist wunderbar und schnafte. Zum Beispiel mit Sätzen wie “Oh je, das ist schlimm. Erzähl mal mehr”. Neben der Person zu stehen, und bei ihr zu sein, während sie sich dem Dämon stellt: Das halte ich für den Weg, und schätze diesen Umgang auch mit mir selber. Ich will nicht getröstet und geholfen sein, will keine Schonung: Ich will doch da durch, ich will den Kampf mit dem Dämon mitkriegen, will ihn gewinnen!

Aber Füttern wird den Dämon nicht los, Füttern macht ihn nur stärker. Füttern raubt die Möglichkeit, sich zu befreien, und sich ganz zu erfahren, eben auch im Leid und in der Hilflosigkeit. Das ist so ähnlich wie mit der heißen Herdplatte, was wir alle kennen: Es scheint liebevoll, ein Kind davor zu bewahren, die heiße Herdplatte anzufassen, aber tatsächlich gibt es kaum etwas wichtigeres als die eigene Erfahrung. Wie kann es liebevoll sein, jemandem die Erfahrung zu vermiesen?

Zärtlich, intensiv, authentisch und wunderbar” war die Beschreibung für die Beziehungen zu den beiden Frauen, die ich kennenlernen durfte.

Zweimal was ganz Eigenes” gehört aber zu der Beschreibung, denn sie sind eben nicht auf gleiche Art und Weise zärtlich und intensiv und so. Genau diese Eigenheit ist das Thema dieses Posts.

Ich habe ja immer behauptet, dass sich zwei Beziehungen schon allein deshalb nicht in die Quere kommen, weil sie völlig unterschiedlich sind. Jede Beziehung zu einem Menschen ist einzigartig und unvergleichlich. Und ich kann jetzt sagen:
Stimmt. Hab ich überprüft, kann ich bestätigen.

Mit Ava führe ich eine “Affäre” und genieße eine Art des Miteinanders, die den Idealen der Einfachheit und Selbstliebe folgt. Was will ich gerade? Was will der/ die andere? Das Ganze geschieht sehr praktisch, sehr direkt, und Ava hat sich sogar ausgebeten, weniger zu sprechen und mehr zu leben, mehr nachzuspüren, wie es gerade ist zwischen uns.

Mit Inari dagegen ist es primär die geistige Nähe und eine vorsichtige Zärtlichkeit, die uns verbindet. Wir sprechen stundenlang, begeistern uns an den gleichen Ideen und Werten, und sind uns Insel in dem Wust von feindlichen Definitionen.

Diese jeweilige Eigenheit zu erleben und anzuerkennen ist erstaunlich schwierig. Ich ertappe mich dabei, wie ich (mal so rum, mal so rum) denke: “Aber das ist doch jetzt eine richtige Beziehung, das andere ist doch irgendwie was anderes”. Oder ich verliere mich in dem Anspruch, beides müsste jetzt in irgendeiner Form gleich sein. So nach dem Motto: “Mist, gerade hab ich voll Lust auf ein Treffen mit Ava, hab ich eigentlich auch Lust auf Inari?”.
Aber immer wieder löst es sich auf. Immer wieder stelle ich fest: Genau so, wie es mit beiden ist, ist es perfekt. Und noch mehr: Jedes meiner Gefühle darf sein. Beide Beziehungen (!) sind anders – es geht nicht um die Unterschiede zwischen den beiden Menschen, es geht darum, dass auch meine Gefühle unterschiedlich sind. Ein Bestreben, sie gleich zu machen, läuft genau diesem Erleben der Eigenheit (= die andere Person als einzigartig und genau so richtig erkennen) zuwider.

Aber bei aller Schwierigkeit lerne ich sehr viel: Beispielsweise lerne ich (was mit der Eigenheit zusammen hängt), dass es ganz schön Kraft kostet, sich tatsächlich auf beide einzulassen. Zum Einen, weil ich emotional bei beiden richtig eingestiegen bin. Ich schwinge mit beiden mit, ich gehe da rein, und es ist eben schlicht die doppelte Menge an Emotion, wenn man so will. Zum Anderen erfordert es meine Aufmerksamkeit, mich jeweils neu einzulassen auf diejenige, die ich gerade treffe in all ihrer Einzigartigkeit.
Ich beginne bereits, mich in Ritualen wohl zu fühlen, die es mir ermöglichen, dieses Neu-Einlassen gut zu begehen. Zwischen Treffen mit den beiden brauche ich eine Pause, und wenn es nur eine halbe Stunde ist. Wenn ich mit Ava körperlich war, brauche ich unbedingt eine Dusche für mein Wohlgefühl. Ich möchte beiden fair begegnen, und dafür brauche ich Raum.

Heute beispielsweise brauchte ich einen Tag für mich. Auch das eine hilfreiche Lektion. Über die Feiertage gab es viel und unglaublich schönen Kontakt zu Ava wie Inari (wirklich mal ein Fest der Liebe, zur Abwechslung), was nicht nur meine Nächte kurz, sondern auch mein Leben reich gemacht hat. Jetzt brauchte ich Besinnung.

Und so komme ich über die reichliche Liebe, über die fantastische Begegnung, und über die Eigenheit der beiden zurück dahin, wo ich niemals weg wollte, und was ich doch mit Cullawine gelegentlich aus den Augen verlor: Zu mir und meinen Bedürfnissen.

Das ist ein bisschen gelogen, aber ein bisschen ist es auch wahr. Wenn die Welt nach den Definitionen funktionieren würde, die ich in mir habe, wäre es wahr. Zwei Frauen sind in mein Leben getreten, in beide bin ich verliebt, und beide finden das gut bis okay. Unser Miteinander ist zärtlich, intensiv, authentisch und wunderbar.

Grund genug für mich zu sagen: Ich lebe gerade zwei Beziehungen.

Das Spannende ist, dass jetzt all das Geschreibe und Behaupte, das ich so in die Welt gepustet habe, ins Tun kommt. Jetzt geht’s ab. Jetzt endlich mal “praktische Polyamory”. Ich hab in letzter Zeit oft an das Blog gedacht, und dass mir gerade Dinge widerfahren, die hierher gehören. Nur war das hier immer ein Ort der Theorie. Das ist sozusagen die Bedienungsanleitung für das Fitnessgerät, und jetzt steh ich eben auf dem Ding.

Ich hoffe, es gelingt mir, die Erfahrungen zumindest teilweise hier abzubilden (und überhaupt erstmal konzeptuell einzufangen, ich kann ja keine Gefühle posten sondern nur Wörter).

In diesem Sinne: Auf geht’s.

Wir wählen unsere Interpretation der Welt. Wir sind es, die entscheiden, was uns geschieht. Das ist nichtmal besonders esoterisch gemeint, sondern ganz handfest: Welche Brille wir aufhaben, um die Welt zu betrachten, ist unser Bier.

Manche dieser Brillen tragen wir schon ganz schön lange, und es ist schwer, sie abzunehmen. Es ist sogar schwer festzustellen, dass es überhaupt eine Brille ist und nicht die Wahrheit.

Ein neues Wort, das ich für diese Brillen, die Interpretationen gelernt habe, lautet “Kontext”.

Der Kontext, in dem ich mein Leben interpretiere, das ist in den letzten Artikeln hier schon deutlich geworden, ist in weiten Teilen einer von “Ich muss geben, damit ich geliebt werde”. Leg dich ins Zeug, J., sei wer verlangt wird. Tu was gerade gut wäre. Es geht um einiges, es geht um Anerkennung.
So ein Kontext ist autopoietisch, er erhält sich selbst aufrecht. Wenn ich erstmal alles durch die kackbraune Brille sehe, ist alles was ich sehe Beweis dafür, dass die Welt nunmal kackbraun ist.

Mit einer Freundin war es vor geraumer Zeit mal spannend. Es gab ein paar Berührungen, eine Suche nach Haut, und am Ende das Bekenntnis, dass wir am liebsten nackt miteinander im Bett lägen. Was aber nicht ging, ihre Beziehung ist (noch) geschlossen. Vor kurzem habe ich herausgefunden, dass sie im Anschluss an diesen aufregenden Abend etwas frappiert davon war, dass ich so wenig Anstalten machte, daran anzuknüpfen. Sie fühlte sich abgewiesen und blockte mich ganz ab, was wiederum dazu führte, dass ich mich abgewiesen fühlte.

Neben der Tatsache, dass das schon ganz richtig von mir war, da keine Anknüpfungsanstalten zu machen, weil ich da nicht die Beziehung zerrütten wollte, steckt allerdings auch der Kontext darin: Ich hätte nicht damit gerechnet, dass sie für meine Ambitionen offen gewesen wäre, dass die Zeit mit mir es wert gewesen wäre, ihre Beziehung zu gefährden. Sowas fällt mir im Traum nicht ein.

Und zynischerweise wird dadurch der Kontext reproduziert: Durch mein aus dem Kontext motiviertes Verhalten (weil ich mir nicht vorstellen kann, dass sie Bock auf mich hätte, halte ich mich zurück), entsteht eine Situation, die den Kontext erneut bestätigt (weil sie sich zurückzieht, beweist sie, dass sie keinen Bock auf mich hat).

Besagte Freundin sagte den schlauen Satz zu mir, dass ich immer wieder solche Erlebnisse haben würde, solange ich meinen Kontext nicht ändern würde. Die Herstellung eines neuen Kontextes sei gefragt – nicht (nur) die Aufarbeitung des alten.

Und tatsächlich, seit ich versuche, die Brille zu wechseln, und mich vor mir selbst neu definiere, geschehen mir neue Dinge. Und dieser neue Kontext verstärkt sich ebenso selbst wie der alte: Wenn ich erstmal davon ausgehe, dass Menschen mich lieben, einfach so, dann ist jeder Anruf, der mich erreicht, Beweis dafür, jeder zweideutige Blick bestätigt mich in meiner Männlichkeit, jedes anvertraute Wort macht mir klar, dass ich wichtig bin für meine Liebsten.

Tipptopp.

“Hab dich lieb” sagte Kira gerade zu mir, nachdem wir ein knackiges Gespräch über Geben und Nehmen, über Selbstliebe, Anhaftung, innere Bedürfnisse, Kontakt zu anderen, Schwäche zeigen und Stützung suchen hatten, weil ich gerade versuche, all das unter einen Hut zu kriegen.

Sie meinte beides, den Imperativ an mich und den Indikativ über sich. Schlau.

Die Gedanken aus meinem letzten Post begleiten mich weiterhin, und ich verstehe mehr über mich.Wenn ich verliebt bin, hatte ich lange das Selbstverständnis, dass die Liebe nur “da sein will”. Ich habe das auch hier im Blog oft geschrieben. Freies Lieben ist frei, weil es nur da sein will.

Ich beginne eine Seite zu sehen, die ich dabei vernachlässige.
Denn ich will geliebt werden.

Wenn ich liebte, und jemand erwiderte das Gefühl nicht, habe ich oft gedacht und gesagt, dass das schon okay ist, Hauptsache, meine Liebe durfte da sein. Böse wurde ich, wenn mir jemand das Gefühl gab, meine Liebe sei nicht in Ordnung. Wenn mich jemand aussperrt.
Das ist ein geschickter Kniff, denn damit bin ich immer aus dem Schneider. Ich will ja gar nichts, ich will nur so sein können, wie ich bin. Da kann mir keiner was, die Liebe findet rein in mir statt, und da hat ja nun wirklich niemand was drin verloren.

Aber so ganz stimmt das nicht. Denn ich will geliebt werden. Es ist ein basales Gefühl, von dem ich glaube, jeder kennt es, und ich bemerke gerade, wie ich es erst jetzt wirklich anerkenne. Verdammte Axt, ich sehne mich nach Liebe und Anerkennung. Und warum überrascht mich das eigentlich? Vor zweieinhalb Jahren dämmerte es mir schon, wie ich jetzt erkenne, aber jetzt ist es wirklich deutlich.

Dieses Gefühl anzuerkennen ist erstmal nicht so schön. Mit Kira erlebe ich gerade Liebeskummer, und ich habe auch bei ihr zunächst gedacht, ich würde nur wollen, dass mein Gefühl anerkannt wird. Aber tatsächlich will ich geliebt werden von ihr, ich will, dass sie so für mich fühlt wie ich für sie.

Es ist nicht schön, das zu bemerken, aus 2 Gründen. Erstens wird das nichts werden in der Form, wie ich es mir wünsche. Das ist schmerzhaft. Es hat auch sein Gutes, weil es sehr viel handfester ist als “Ich darf meine Liebe nicht fühlen”. Ich darf das nämlich durchaus fühlen, und der Schmerz, dass das nicht erwidert wird, ist real und will gegrokt werden. Der Schmerz, dass meine Liebe nicht da sein dürfte, ist abstrakt und irgendwie virtuell. Dieser hier ist echt, und das ist gut. Aber zunächst ist es schmerzhaft, und ich trauere.

Zweitens und komplizierter ist es nicht schön, weil ich mir damit eine Falle baue.

“Wenn jemand Liebe will, dann gibt es so etwas wie Liebe nicht, sondern nur Beweise der Liebe.”
aus “Die Träumer”

Wer geliebt werden will, neigt dazu, alles in die Dichotomie zu packen: Ist etwas ein Beweis von Liebe oder nicht? Man deutet alles auf dieser Dichotomie. Wenn Kira keine Zeit hat, wenn Kira sich verliebt – alles sind Beweise, dass sie mich nicht liebt.

Ich habe irgendwie das Gefühl, dass ich da schonmal weiter war, und auch jetzt noch ist mir durchaus zugänglich, dass ihre Liebe unabhängig von diesen Sachen ist, dass ich ihr wichtig bin und sie mich liebt, so wie sie mich halt liebt (und nicht so, wie ich das gerne hätte).

Dennoch bleibt ein Kummer, jetzt wo ich mir den Wunsch eingestehe, widergeliebt zu werden. Mal sehen, wohin er mich führt. Es hängt mit etwas zusammen, was ich letztens über mich und die Rolle des Leidenden schrieb, und wie ich die Rolle einmal abgelegt hatte:

Ich war dann nicht mehr der Leidende, der nicht wagt, das zu leben, was da ist, ich war ich, und es war halt anstrengend das zu leben, was da ist. Ich hab sogar Fieber bekommen, und war nachher erschöpft.
Aber ich hab es eben gemacht.

In gewisser Weise ist der Kummer genau das gleiche. Und ich habe Kira sogar davon erzählt, habe es gefühlt und gelebt. Habe es eben gemacht.

Ich habe über mich selbst verstanden, dass ich häufig derjenige bin, den Leute sich wünschen. Oft sind die Leute, die sich einen bestimmten J. wünschen, auch Leute die mich lieben, von daher ist das nicht so schlimm: Ich bin dann ein liebenswerter J.

Aber bin ich dann noch J.? Das Muster taucht an vielen Ecken auf, nicht zuletzt in meiner Arbeit: Therapeutisch tätig zu sein (ob Psychotherapie oder Massage) bedeutet, dass man für jemanden etwas ist, was er gerade braucht. Oder was er sich wünscht. Und es ist eine dankbare Rolle, wir alle, die das tun, werden reich belohnt dafür.

Ich kenne dieses Muster auch aus meiner Liebensgeschichte, wenn ich verliebt war in Frauen, die das nicht so sahen. Ohne, dass ich überhaupt zu mir hinspüre, gehen schon Worte über meine Lippen wie “Ist okay, dacht ich mir schon, ist ja auch gar nicht schlimm”, und es ist sogar was Wahres dran. Aber es wäre auch was Wahres an “Wow, das ist richtig, richtig schlimm, und ich bin sehr traurig”.

Auch aktuell gibt es Menschen, wo ich mich vernachlässigt fühle, traurig darüber bin, dass Gefühle nicht erwidert werden, oder ich schlicht das Gefühl habe, mehr reinzustecken. Und natürlich ist das immer okay: Mach wie’s gut für dich ist, ich will dich zu nichts zwingen, Gefühle sind eben Gefühle. Aber es wäre eben auch wahr: Ich vermisse dich, ich will dir nah sein, es macht mich einsam, wenn du mir fehlst.

Selbst in ganz kleinen Situationen passiert mir das: Jemand lädt mich ein, ich freue mich darüber, und sage schon zu, bevor ich bemerken konnte, ob ich da Lust zu habe. Vielleicht bräuchte ich auch meine Ruhe? Vielleicht will ich später auch absagen. Müsste ich mal hinfühlen.

Es geht hier nur einerseits darum, Leiden zuzulassen, Schwäche zuzulassen. Zum Anderen (und fast wichtiger) geht es aber darum, jegliche Gefühle zuzulassen, und vor allem:
Meine Gefühle zu fühlen, bevor ich für die anderen die Reaktion raussuche, die jetzt wohl am allerbesten wäre.

In der Beziehung zu Cullawine ist es auch dieses Muster gewesen, dass mich oft hat stolpern lassen. Noch bevor ich nur ahnte, wie es mir vielleicht gehen könnte, wusste ich schon, was zu tun war, weil ich es von mir erwartete, und nachher merkte ich dann, wie ich gegen mein Gefühl gegangen war.

Ich achte in den letzten Tagen mehr darauf, versuche mehr das zu tun (und zu bemerken) was ich wirklich will, das zu äußern, und dann möglicherweise einen Kompromiss einzugehen. Aber nicht sofort den Kompromiss ausdenken und mich zwingen, den zu fühlen.
Manchmal gelingt es mir. Bei einem Treffen von allen Trainern eines Projekts, für das ich arbeite, scherzte ich mit einer anderen Trainerin, und sie reagierte irgendwann genervt von einem Kommentar von mir. Anstatt gleich zu reagieren mit einem “Du, das hab ich gar nicht so gemeint wie das jetzt wohl angekommen ist”, hab ich sie einfach reagieren lassen und dachte “Herrje, das hat sie jetzt wohl kurz in den falschen Hals gekriegt”.

Und wenn mir eine Mitbewohnerin sagt, ich war ihr in den letzten Tagen etwas zu körperlich, nicht gleich zurückzurudern und Besserung zu geloben, sondern zu sagen “Ich hab dich sehr gern, ich berühre dich gern, und wenn ich an Grenzen komme, bitte zeig mir das. Ich werde jetzt nicht vorauseilend alles unterlassen, was dich möglicherweise stören könnte, denn das ist ein wunderbarer und guter Ausdruck von meinen Gefühlen”.

Bei Kira, in die ich verliebt bin, und einer weiteren gemeinsamen Freundin, von der ich mich manchmal etwas stehengelassen fühle, möchte ich genau das noch mehr schaffen. Weniger “hey, ist doch okay, du bist voll okay”, sondern zu gleichen Teilen ein “hey, ich bin voll okay, bitte respektiere mich mit meinem ganzen Kram”.

Die vielen Schuhe, die im Weg stehen, sind nicht alle zum Anziehen da. Weniger für die anderen sein, was ich für mich sollte. Das ist nicht nur respektvoller mir selbst gegenüber, sondern letztlich sogar auch gegenüber den anderen. Indem ich mich nicht für sie verbiege, nehme ich sie ernster. Indem ich mich ihnen zumute, gestatte ich ihnen eine wahrhaftigere Begegnung mit mir.

Der Prozess, der beim Massage-Workshop angestoßen wurde, wird mit der Zeit danach etwas klarer für mich. Ich war ja krank, und merkte: Ich versage mir dann Sachen, und bin sauer. Auf die Krankheit oder auf mich, das ist gar nicht wirklich zu unterscheiden. Jedenfalls stehe ich dann da mit meinem rauhen Hals und leide, und bin der arme J., der jetzt nicht mitmachen kann.

Es ist eine bestimmte Rolle, in die ich dann gehe: Die Rolle des Leidenden. Und in dieser Rolle versperre ich mir selber ganz viele Dinge. Ich kenne diese Rolle gut, fiel mir auf, und zwar nicht von Krankheit, sondern von Verliebtheit. Wenn ich unglücklich verliebt war, ging ich massiv in diese Rolle des Leidenden, was damit einherging, dass ich in der Konstruktion meiner Identität nur Raum fand für traurige, schlimme Bauklötze.

Eine Freundin von mir bändelt gerade mit einem gemeinsamen Bekannten an, und ich spürte in mir ein Gefühl von Ausgeschlossensein. Das ist nicht komplett angebracht, sie ist loyal und aufmerksam, und ihr Anbändeln dort ändert nichts an der Verbindung hier. Sie ist poly und frei und kriegt das noch dazu ziemlich gut hin.
Aber spannenderweise führte gerade dieser Eindruck von “J., das Gefühl ist doch gar nicht nötig” geradewegs in die Leidenden-Rolle. Weil ich mir das Gefühl versagte, war ich viel mehr der Gelähmte, der Eingeschränkte.

Der Leidende leidet nämlich nicht an einem Gefühl, sondern eher an der Abwesenheit von authentischem Ausdruck.

Auch bei Kira, bei der ich genau diese Rolle vor ziemlich genau einem Jahr schonmal erlebte, war es dieses Fehlen von authentischem Ausdruck, das die Rolle einleitet. Überhaupt kenne ich dieses Gefühl von Zeiten, in denen ich unglücklich verliebt war. Um zu verhindern, auf die Schnauze zu fallen, lege ich mich schonmal ganz still hin. Und letztlich stelle ich damit den Zustand her, vor dem mir eigentlich graut: Wenn meine Gefühle nicht sein dürfen.

Dabei sind die Gefühle in jedem der Fälle ganz zauberhaft und wunderbar: Ich habe ein bisschen Angst, ausgesperrt zu werden, ich bin dabei voller Wohlwollen und Liebe, ich möchte diese Menschen nah in meinem Leben haben, ich möchte Zärtlichkeit ausleben, ich will sie nicht verlieren.

Diese Dinge allein zu schreiben stärkt mir den Rücken, ich richte mich innerlich wie äußerlich auf und spüre mich. Diese Gefühle zu leben, zuzulassen, erscheint mir gut und richtig. Selbst wenn ich natürlich nicht immer das bekommen kann, was ich gern hätte, ist es eben doch ein Unterschied, ob ich es versuche (und vielleicht auf die Schnauze falle) oder es gar nicht erst versuche.

Auf dem Workshop gab es einen Moment, wo wir alle im Kreis standen, und (da es um Körper und Körpererfahrung geht) ein bisschen Musik lief, zu der wir uns bewegen durften. “Toll”, dachte ich, “ich bin krank und kann nicht mittanzen, obwohl ich das gut fände”. Glücklicherweise gelang es mir aber, von diesem Gedanken Abstand zu finden. Wieso soll ich nicht tanzen? Also habe ich getanzt, und obwohl es natürlich anstrengend ist mit krankem Körper, ging das, und vor allem veränderte es etwas in meiner Haltung mir selbst gegenüber:

Ich war dann nicht mehr der Leidende, der nicht wagt, das zu leben, was da ist, ich war ich, und es war halt anstrengend das zu leben, was da ist. Ich hab sogar Fieber bekommen, und war nachher erschöpft.

Aber ich hab es eben gemacht.

Ich mache momentan eine Weiterbildung in einer ganzheitlichen Massage, die mich beglückt und in vielem unterstützt. Traumhafte Sache. Letztes Wochenende war wieder ein Massage-Workshop-Wochenende (Thema: Beine), und es sind zwei Neue dazugekommen. Einer von beiden, der Mann, ist etwas speziell. Ein bisschen rechthaberisch, ein bisschen trampelig, was schöne ernste Situationen angeht. Es fällt ihm schwer, einen lustigen Spruch nicht unterzubringen, und es fällt ihm schwer, nicht gegen eine Meinung zu argumentieren, die jemand anders präsentiert. Gleichzeitig ist er interessanterweise ganz sicher, dass er Menschen psychotherapeutisch sehr helfen kann, er “weiß” das, so sagt er. Ich halte ihn für ziemlich gefangen in seinen Sichtweisen, aber nun gut. Ich kenne ihn erst kurz, und vorerst will ich an einer Episode mit ihm nur etwas Allgemeines beleuchten.

Während des Wochenendes wurde ich krank. Das ist schon einmal passiert, ganzheitliche Massage berührt eben nicht nur Haut und Muskeln, und es kann passieren, dass Prozesse angestoßen werden, wo dann etwas rauskommt. Ich jedenfalls war krank, nahm mich ein bisschen aus dem Workshop raus, ruhte und überlegte, wie es mir gerade geht, was das Thema “Beine” bei mir so auslöst und so weiter.

Der etwas sperrige neue Teilnehmer setzte sich zu mir, machte es sich gemütlich, schaute mich dann mit einem tiefen Blick an und fragte: “Warum?”.

Die Situation gab her, dass er meine Krankheit meinte, dass er dem Glauben anhängt, dass Krankheiten etwas bestimmtes bedeuten, dass ich die Bedeutung meiner Krankheit wüsste, und dass ich ihm davon erzählen wollen würde.

Ich wurde wütend und fühlte mich in die Enge gedrängt, hatte mich aber damit abgefunden, dass er ein bisschen schwierig für mich war und ich aber noch einige Wochenenden mit ihm zubringen müsste. Ich gab die allgemeine Richtung meiner Vermutungen zur Antwort, sie hatten mit Selbstliebe und dem Umgang mit eigenen Unzulänglichkeiten zu tun, und er fragte: “Fühlst du dich hier wohl?”.

Ich dachte kurz nach, überlegte, ob die Situation die richtige wäre, um ihm zu sagen, dass er mich nervt, entschied mich dagegen und sagte “Joa”.

“Rundum?”, hakte er nach, und ich wurde noch wütender. Innerlich stieg ich aus, und ich kann auch jetzt aussteigen, denn die Geschichte ist ausreichend erzählt, um verständlich zu machen, was mich störte.

Ich finde es unfassbar: Ich sage ihm sogar, was meiner Meinung nach los ist, und er präsentiert nicht nur seine Theorie, nein, er bleibt dabei, selbst nachdem ich ihm sage, dass sie nicht passt. Er blieb und ist vermutlich weiterhin der Meinung, dass ich mich nicht ganz wohlfühle, und deshalb krank wurde.

Dieses Muster ist in so ein bisschen esoterisch, energetisch angehauchten Subkulturen gang und gäbe: Man deutet Phänomene, was das Zeug hält. Bei den eigenen Phänomenen finde ich das ganz okay. Unabhängig ob es nur sense-making ist oder tatsächliches Herausfinden, die Beschäftigung mit Befindlichkeiten ist voll in Ordnung.

Aber sobald es an anderer Leute Phänomene geht, finde ich diese Deutungen frech, zumal die Deuter häufig so verdammt sicher sind. Und wenn man widerspricht, ist das nur ein Beweis, dass man sich der Deutung verweigert, weil sie nämlich eigentlich genau passt, und das tut weh. Ha! Ich kenn dich zwar keine 48 Stunden, aber ich weiß jetzt schon besser über dich Bescheid als du. Und wenn du dich über diese Anmaßung aufregst, dann nur, weil ich recht habe.

Dieses Muster ist in der klassischen Psychoanalyse übrigens ebenfalls anzutreffen, und ist der Grund, warum ich davon nichts halte. Wenn die Deutungshoheit bei jemand anderem ist, halte ich das für Gewalt. Deutungen über andere sind Gewalt.

Man ermächtigt sich durch Deutungen der Sache, die man deutet, und im Falle von Phänomenen im Leben eines anderen, ermächtigt man sich dieser Phänomene, reißt sie aus dem Deutungsgefüge der Betroffenen und vergewaltigt sie. Du denkst, du seist verliebt? In Wirklichkeit hast du nur Angst vorm Alleinsein. Du denkst, du seist unabhängig? In Wirklichkeit hast du nur Angst vor der Bindung. Die Themen sind beliebig, es geht nicht um sie, es geht um das Muster: Es wird gedeutet, anstatt nachzufragen. Das ist Gewalt, weil es den Deuter über den anderen erhebt, er wird dadurch mächtiger, und er dringt in das Privateste ein, das wir haben: Unsere Sicht von uns selbst.

Bei dieser Sicht von uns selbst gibt es keine Wahrheit, wenn ihr mich fragt. Wir erzählen Geschichten über uns selbst, wir fassen Fakten zusammen um uns zu verstehen. Jemand anders kommt daher und fasst die Fakten anders zusammen, und verändert damit die Wahrheit. Das ist okay, wenn es liebevoll geschieht, und in dem Wissen, dass die neue Deutung möglicherweise falsch ist. Aber als “Pass mal auf, ich erzähl dir mal, wie du wirklich drauf bist” ist es Gewalt.

Ihr merkt: Ich bin stinksauer über diesen Deutungsversuch durch den Teilnehmer. Zynischerweise habe ich diesen Ärger nicht herausgelassen, weil ich wusste, er würde missverstanden als Reaktion auf die korrekte Deutung. Schon habe ich mich der Gewalt Untertan gemacht. Eigentlich war ich wütend, aber innerhalb der Deutung dieses anderen Menschen wäre meine Wut ein Beleg für seine Deutung gewesen, also habe ich sie lieber ruhen lassen.

Ich glaube, das war falsch. Seine Deutung ist im Raum, aber sobald ich sie irgendwie berücksichtige in meinen Handlungen, nähre ich sie schon. Stattdessen würde ich lieber ganz frei sein davon, und einfach bei mir bleiben, meine eigene Welt durch meine eigenen Deutungen erfahren. Ich hatte ja sogar schon eigene Deutungen meiner Krankheit. Ich hätte mich gefreut, wenn er mich wirklich danach gefragt hätte, aber er hat nur seine These beweisen wollen.

Herrje, was muss man gut auf sich aufpassen. Diese Deutungen stellen sich einem überall an den Wegesrand und rufen dir die Lügen zu, und sobald du sie zu entkräften versuchst, hat der Rufer schon gewonnen.

Fragen statt deuten. In der lösungsfokussierten Therapie, die ich gelernt habe, lernt man genau das. Und es wird mir heiliger, je öfter jemand mir eine Deutung links und rechts um die Ohren haut.

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Cullawine hat mir in unserem Trennungsgespräch ans Herz gelegt, die Themen, die mir in der Beziehung begegnet sind, nicht einfach ad acta zu legen, und ich halte das für einen guten Rat. Die Impulse, die unsere Beziehung in mein Leben gegeben hat, sind groß und rühren wichtige Dinge an.

Im Tarot, wo ja zweimal als Quintessenz der Tod auftauchte, ist es folgendermaßen: Um die Quintessenz zu berechnen, berechnet man die Summe aller Kartenwerte, und – falls die Zahl außerhalb des Deutungsspektrums liegt – nimmt dann die Quersumme. Der Tod kam raus, weil die Quintessenz 13 war.
Weil man aus der 13 erneut eine Quersumme ziehen kann (wie aus allen zweistelligen Ergebnissen), ist mit dem Tod eine andere Karte eng verbunden. Der Herrscher.

Der Herrscher steht für Handlungsfähigkeit und Struktur, für Ordnung und Klarheit. Denn auf jeden Tod folgt eine Neuordnung, und sie beginnt momentan.

Die Themen, die mich begleiten, und die integriert sein wollen, sind vielfältig, und tatsächlich muss ich mich ein bisschen an die kurze Leine nehmen, um nicht vor ihnen wegzulaufen. Das Thema Schuld spielt eine große Rolle, warum ich soviel Verantwortung für andere übernehmen will, und was ich den Menschen damit antue (weil ich sie entmündige). Dabei ist vor allem der Einfluss meiner Eltern interessant, die sich im Schlechten getrennt haben und das nie wieder bearbeitet haben.

Sexualität ist ein weiteres Thema, was mir zu knacken gibt. Schönheit und warum sie mir so wichtig ist, Lust erleben und Kontrolle abgeben, Haut wollen aber vor Sex zurückschrecken… Ohne das hier detailliert behandeln zu wollen, sei gesagt: Das fiel mir alles nicht so einfach in der Beziehung zu Cullawine, und mir war nicht klar, wieviel ungepflügte harte Erde da ist.

Insgesamt habe ich das Gefühl, es geht jetzt mehr ums Eingemachte. Bislang war das Blog konzeptuell, war kühl und mit Abstand. Diese neuen Dinge aber sind massiv und fundamental Teil von mir. Ich habe noch nicht entschieden, wie sehr ich gewillt bin, das hier im Blog zu öffnen. Einerseits, weil es öffentlich ist und ich selbst keine Blogs mit Seelenstriptease mage, und andererseits auch, weil ich durch Text eher wieder Gefahr laufe, konzeptuell zu werden, und das ist genau wider die Idee.

Phrasenhafte Selbstermahnungen von “Sei mehr bei dir” und “Steh zu deinen Gefühlen” reichen nicht aus, um das zu fassen, was geschieht. Manchmal stehe ich selber vor mir und wundere mich, was da so alles abgeht. Oft mache ich dann lieber den Rechner oder die Xbox an, weil es mir etwas groß erscheint.

Und doch will ich da hinschauen. Weil ich es bin, den ich da sehe.